Beschreibung: Eine gesellschaftskritische Geschichte über einen Drachen, den es in unsere Welt verschlagen hat. Ein modernes Märchen über unsere technologisierte Gesellschaft.
Drachen.... ich kannte sie gut. Je kleiner ich war, desto vielköpfiger und mehr-schwänziger waren sie - und desto besser kannte ich sie auch. Warum es heute keine mehr gibt? Drachen laufen ja nicht frei herum. Sie gehören in Märchen hinein. Und in der Märchenzeit wußte man ja noch nicht, was man heute weiß: Märchen schaden Kindern, weil die in ihnen herumtrampelnden Drachen böse, wild und grausam sind und weil dann die Kinder, welche diese Märchen anhören müssen, ebenso werden: böse, wild und grausam. Also: Weg mit den Märchen! Weg mit den Drachen! Weg mit dem Bösen! Sollen die Kinder doch Fernsehen, das ist besser für sie. Man warf die Drachen aus den Märchen und die Märchen aus den Büchern einfach hinaus und drückte fortan nur noch auf Knöpfe. So bekamen die Kinder nichts märchenhaftes mehr zu hören. Und manchen fielen die Ohren ab, weil sie ungespitzt an ihren Köpfen sowieso nur herumhingen. Dafür bekamen sie eine Menge zu sehen, und sie gewöhnten sich.
Die Drachen ?
Zunächst standen sie dumm in der Wirklichkeit herum. Dann suchten sie sich
ein neues Plätzchen. Die Wasserdrachen zum Beispiel zogen sich zurück in
die tiefsten der Ozeane. Sehr märchenhaft fanden sie es da aber nicht. Das
ölige, versalzende Wasser war so gar nicht nach ihrem verwöhnten Geschmack.
Andere, der Menschen und ihrer klugen Erkenntnisse müde, zogen sich zurück
in die Welt der Träume. Dort kriechen sie einem manchmal ganz langsam über
den Weg, laut gähnend und mit weit aufgerissenem Maul. Und dort schnarchen
sie auch schon mal hinter felsigen Klippen, in tiefen feuchten
Nebelschluchten. Wieder andere, welche, die gut zu Fuß waren, wanderten
aus, in die letzten weißen Flecken, die es auf unserer Erde noch gibt und
die ich Dir bestimmt nicht verraten werde. Aber einer, ein besonders
mutiger, nahm Anlauf und flog hinauf in den Weltraum in der Hoffnung, dort
endlich Ruhe zu haben vor klugen Köpfen mit intelligenten,
drachenfeindlichen Ideen. Eine ganze Zeit lang ging das gut......
Durch den eisigen
Weltraum schoß etwas zu ihm hinauf; Etwas metallisch blinkend, rundlich,
igelig, silbern gehörnt, seltsame kurze Laute ausstoßendes.
„Was bist Du denn für einer ?“ will unser ausgeflogener Drache wissen.
„Ich... ich bin ein Drache!“ quäkte der andere, „Einer von den wirklichen, den
fortschrittlichen, natürlich. Nicht wie du. Geh mir aus dem Weg!“ und er
sauste genauso schnell davon, wie er aufgetaucht war.
Als unser Märchendrache sich von seinem Schrecken erholt und seinen Mut
wieder gefunden hatte, fing er gewaltig an zu brüllen.
„Ha,“ brüllte er „ha, daß ich nicht lache. Du und ein Drache! Du: zackenlos, schwanzlos,
klauenlos, krallenlos; mit einem Wort: SINNLOS !“ und er spuckte dem
Neuen einen gewaltigen Feuerstrahl hinterher.
Aber da tauchte auch schon der nächste wirkliche, neue Drache auf:„Ich hab`s eilig!“ piepste er „Ich
habe heute noch die gesamte nördliche Halbkugel auf dem Programm!“
Und so weiter. Hunderte von diesen neuen Drachen sausten durch den Raum, in
ständigem Kreisverkehr.
„Wir sind Jetzt zuständig. Für alles. Solche wie du sind überholt. Wir geben den Menschen
jetzt weise Ratschläge! Euch gibt es doch gar nicht mehr! Wir haben einfach die besseren Möglichkeiten!!!
Wir sehen alles. Die Menschen da unten können uns nichts verbergen.“
„Aber das lassen die sich doch nicht einfach gefallen! Uns haben sie ja auch
rausgeworfen!!“ widersprach der alte Drache.
„Blödsinn, von einigen Irren abgesehen, lieben uns die Menschen. Wir brüllen ja auch nicht,
leben nicht in düsteren Höhlen, gehen ihnen nicht auf die Nerven und vor allem fressen
wir auch keine Jungfrauen! Wir lieben das Dezente, weißt du und deshalb
fürchten uns die Menschen auch nicht.“
„Aber wenn die Menschen nun gar nicht das tun, was sie tun sollen??“
„Dann sagen wir es ihnen eben - immer und immer wieder, unaufdringlich und so,
daß sie später denken, alles sei ihre Idee gewesen. Die Menschen mögen das. Wir sind schnell,
wir denken ihnen alles vor. So denken sie nicht nach. Das erleichtert den Umgang mit
ihnen beträchtlich.“
„Damals, als wir noch dazu gehörten, gab es immer einige, die das nicht denken wollten,
was man ihnen vordachte, die etwas anderes wollten - was wußten sie selbst nicht -, sich aufmachten und
kämpften...“
„Unsinn!“ empörte sich der neue Drache, „Sie sollen keine Unruhe stiften! Sie werden bedacht,
geregelt, entsorgt!“
„Wie traurig! Wenn sie sich nicht mehr aufmachen, dann können sie ja auch gar nichts
mehr finden. Früher, als es uns noch gab, konnten sie eine Menge finden:
singende, springende Löwen, goldene Federn von geheimnisvollen Vögeln....
sogar Zauberwörter .....“
„Das fehlt gerade noch. Wo kämen wir denn da hin? Nein, nein, wir wissen was die Menschen brauchen
und warte ab, dann wirst du sehen, daß sie auch nichts anderes wollen! Der Mensch gewöhnt
sich!“
„Aber wenn sie doch nicht mehr kämpfen, um zu gewinnen oder zu
verlieren, dann müssen sie ja immer so bleiben, wo und wie sie sind!?“
„So soll es auch sein. Wer in der Ordnung ist, der soll es auch bleiben. Das
ist gut für sie. Der Mensch gewöhnt sich! Immer!“
Tiefe Traurigkeit
überkam da unseren Drachen, weil es den Menschen so schlecht ging, daß es
ihnen nicht einmal mehr an irgend etwas fehlte. Und weil sie sich so
gewöhnt hatten.
Er breitete seine in allen Grüntönen leuchtenden
schuppigen Flügel aus, stürzte sich kopfüber auf die Erde hinab und
landete genau auf der Halde, wo alles hinkommt, was keiner mehr hören,
sehen und denken will: aufgestapelte Erinnerungen, Unsicherheiten,
Träume...
Dort stieß er Rauch und Feuer aus, und ein so furchtbares
Gebrüll, daß sich die ältesten der alten Bäume vor freudigem
Widererkennungsschreck, vor angenehm vertrautem Grusel bogen und
schüttelten. Und auch die Menschen, die gerade vor ihren Maschinen
hockten, um sich zeigen zu lassen, was sie sehen wollten, spitzten
verwundert ihre entwöhnten Ohren.
Das kam doch nicht aus dem Kasten! Das
kam von ganz woanders her? Von draußen! (Oder etwa von innen??!) Und das
klingt - das klingt doch - wie altes, längst verklungenes Drachengebrüll.
Sie bekamen Erinnerrungsgänsehäute, und zum ersten mal seit langem stehen
ihnen die ordentlich frisierten Haare zu Berge. Fast hatten sie sich
gewöhnt, an die drachenlose, die sichere, die angenehm schläfrige Zeit,
hatten Karten gespielt, waren einkaufen gegangen, versichert gegen Regen
und gegen Traurigkeit.
Und nun: dieser Schrecken! Und ganz auf einmal,
nicht in Raten! Solche Töne in der Nacht! Viele versteckten sich, zogen
sich (wie immer) die Decke bis weit über den Kopf, aber manche (und von
denen auch nur ganz Wenige) bekamen ein seltsam prickelndes Gefühl,
machten die Fenster auf, sahen mutig heraus in dieses schwarze
Erinnerrungsmeer, aus dem schuppige Flügel auftauchten, peitschende
Schwänze, aus dem feurigrote Augen sie anglühten.
Der Drache brüllte. Er brüllte sich heiser, die ganze Nacht hindurch und
auch die folgenden. Und die Furcht der Menschen wuchs, aber auch der Mut,
die Lust auf Taten.
Da ist doch etwas, gegen (oder für) das man kämpfen kann! Und sie machten
sich auf. Einzeln, einzelne. Als der Drache das merkte, begann er seinen
Rückzug, ständig vor ihnen herbrüllend. Mühen und Beschwerden mußten sie
auf sich nehmen, um ihn nicht aus den Ohren zu verlieren.
Struppiger
wurden ihre Haare, zahlreicher ihre Blasen und hungriger ihre Mägen, aber
ihre eigenen Schritte, ihre eigenen Gedanken fielen ihnen immer leichter.
Ihr Mut und ihre Angst bekamen Flügel und flogen ihnen als Leuchtkäferchen
voran ins Unbekannte.
(Aber jetzt bekomme ich doch Angst um den Drachen! Er treibt es ziemlich weit, das kann leicht ins rotfunkelnde Drachenauge gehen! Wenn sie ihn nun fangen und töten, ihm den Kopf abschneiden (oder gar die Zunge)!!! Und deshalb bemühe ich jetzt schnell den Zufall:)
Just in dem Moment, als ihn einer gerade so hätte am Schwanz packen können, läßt sich mal wieder einer von diesen klugen Köpfen etwas einfallen: Märchen schaden Kindern nicht! Das war ein Irrtum! Man darf sie den Kindern zurückgeben (böse, brutal und grausam müssen sie wohl demnächst durch etwas anderes werden)! Und weil das ja nun in genau dem selben Moment geschah - das Schwanzpacken und das Bücher-wieder-öffnen meine ich - machte der Drache einfach einen gewaltigen Satz und landete mitten in seinem Lieblingsmärchen von der kleinen Seejungfrau. Doch weil er da drin ja nichts zu suchen hat, und weil er mittlerweile von der ganzen Brüllerei auch ziemlich müde geworden war, versteckte er sich hinter einer Felsenklippe am Meeresufer und schaute von dort aus völlig hingerissen der kleinen Nixe zu, die er so lange nicht gesehen hatte, wie sie sich Perlen ins Haar flocht, ein trauriges Lied summte und ihm zulächelte.
Und der Drache war glücklich!